Johnny Haeusler hat im Spreeblick die Frage gestellt, wo wir alle heute vor 20 Jahren waren. Und die kam am heutigen Tag, dem 30.9.2009, nicht von Ungefähr.

Denn heute vor 20 Jahren hat Hans-Dietrich Genscher die in die Deutsche Botschaft in Prag geflüchteten DDR-Urlauber informiert, dass sie ausreisen dürfen.

Ich war damals Student und hatte kurz zuvor einen Krankenhausaufenthalt hinter mir. Aber der Reihe nach.

Nach dem Abitur war ich drei Jahre Zeitsoldat und hörte von einer Kaserne in der Vulkaneifel aus die Nationale Volksarmee ab. Mir waren die Standorte der NVA tatsächlich besser vertraut als die der eigenen Armee und dadurch war die DDR für mich per se nichts, das ich in Anführungszeichen setzte, sondern Realität. Ich war ein Kind des geteilten Deutschlands und wollte während der drei Jahre Wartezeit für ein noch nicht feststehendes das Studium sammeln, da meine Abiturnote eher mittelmäßig war.

Und dann saß ich da im Schichtdienst, hörte Tast- und Sprechfunk ab und die Genossinnen und Genossen der DDR waren in Form ihrer Soldatinnen und Soldaten auf einmal real, Individuen. Im Sprechfunk erkannte ich als linguistisch und auditiv orientierter Mensch manchmal Stimmen, Spracheigenheiten oder andere Merkmale wieder und konnte die mir unbekannten Betriebsfunker wiedererkennen. Im Tastfunk gibt es trotz der großen Formalisierung, auch „Akzente“, wenn die zum Abstimmen des Empfängers „am anderen Ende“ gesendeten „V“ (drei kurze, ein langer Ton) falsch (z.B. vier kurze, ein langer Ton) oder in Vierergruppen statt den üblichen Dreiergruppen gesendet wurden, etc.

Besonders an herausragenden Terminen wie Ostern, Weihnachten oder Silvester, wurde es mitunter ausgesprochen menschlich. Ich erinnere mich an einen um Hilfe rufenden Soldaten aus meiner Schicht. Statt des langweiligen und nur zum Blockieren der Frequenzen durchgeführten Schein-Funkverkehr mit aus Zufallsbuchstaben bestehenden Sendungen, die wie chiffrierte Texte wirken sollten, kam ein wahrer Schwall an Klartext.

Aber nur scheinbar – es waren wie Worte gruppierte Buchstaben mit Satzzeichen dazwischen, die für uns keinen Sinn ergaben. Bei uns sprach niemand russisch, da wir nur die NVA abhörten. Am nächsten Tag bekamen wir aus der Auswerteabteilung die Rückmeldung (Rückmeldungen waren aus Geheimhaltungsgründen äußerst selten), dass ein NVA-Soldat rund zwei Seiten aus einem weniger bekannten Werk von Tolstoi – auf russisch – gemorst hatte.

Dann kam 1988 mein Dienstzeitende, ich war wieder Zivilist und fand mich mit einem Beinbruch im Krankenhaus und begann danach, zu studieren.

Nach rund einem Jahr Studium bröckelte dann die DDR, und zwar gerade im Sommer 1989, als ich wieder im Krankenhaus lag. Die Schrauben und ein Blechstreifen mussten wieder aus meinem Schienbein entfernt wurden, die es während der Heilungsphase zusammengehalten hatten. Im Krankenhaus in Düsseldorf sorgten wir dafür, dass im Aufenthaltsraum ein Fernseher stand und wir schauten uns die Nachrichten aus den bundesdeutschen Botschaften mit großen Augen an.

Ältere Zuschauer fürchteten einen Krieg, ein BWL-Student erging sich in wirtschaftlichen Erörterungen, der Rest war sprachlos. So viele „DDRler“ hatten wir bislang nur als Schauspieler in den wenigen DDR-Filmen, die im Fernsehen liefen, auf einem Haufen gesehen. Dann kam der denkwürdige Abend.

httpv://www.youtube.com/watch?v=uFV2JCWhYSo

Nach dieser Nachricht hörten wir im Aufenthaltsraum der Chirurgischen Abteilung des St. Vinzenz-Krankenhauses Menschen jubeln. Ich sah alles wie durch einen Nebel, die Menschen um mich herum weinten, schluckten, waren sprachlos. An eine ältere Dame mit einem gebrochenen Arm erinnere ich mich, sie hatte einen Bruder in der DDR, der gerade nach Ungarn in den Urlaub gereist war, als sie sich den Arm brach. Ein Taxifahrer mit defektem Meniskus saß neben ihr, nahm sie in den Arm, stützte sie.

Hey Leute, dachte ich, wir haben gerade einen Moment der Weltgeschichte erlebt, wie er in einem normalen Menschenleben nur einmal vorkommt.

Nach den 2 Wochen im Krankenhaus war ich noch einige Wochen zu Hause und verfolgte die Nachrichten. In meinem Computerclub war auch ein Amateurfunker und ich verbrachte manche Nacht mit ihm in seiner Funkbude. Wir hörten – wie ich es ein Jahr zuvor bei der Bundeswehr getan hatte – die NVA ab.

Im Oktober wurden die Funkverkehre zunehmend hektischer. Es wurden Funkverkehre aktiviert, die sonst ruhten. Ich glaubte, den Großteil als zum Kommando Grenztruppen gehörend zu erkennen – immerhin hatte ich ein Jahr lang die personellen und sonstigen Veränderungen „drüben“ nicht mitbekommen. Die Aktivierungen waren ein untrügliches Zeichen für erhöhte Alarmbereitschaft. Über einen Bekannten hatten wir Kontakt zum Westdeutschen Rundfunk und wollten bei bemerkenswerten Erkenntnissen dort anrufen.

Die Montagsdemos wurden größer und wir horchten mehrere Abende in der Woche – insbesondere Montags – auf Kurzwelle, was in der DDR vor sich ging – natürlich gab es keine Inhalte, sondern nur Quantität der Funkverkehre zu hören.

Dann kam der November.

Am 4. November demonstrierten rund eine Millione DDR-Bürger in Berlin für die Presse- und Meinungsfreiheit. Kurz zuvor war u.a. Margot Honecker als Ministerin entlassen worden. Am 7. November trat der Rest der Regierung zurück. Wir hingen inzwischen jeden Abend an zwei Empfängern – einen zweiten hatte der Funkamateur sich von einem Kollegen geliehen. In der Nacht auf den 9. November und den ganzen Tag über (zum Glück hatten wir beide frei) wurden beängstigend viele Funkstationen aktiviert. Der Kontaktmann beim WDR war schon aus anderen Gründen alarmiert und sprach von Andeutungen, dass ein Schießbefehl gegen Demonstranten existieren solle.

Während die Funkdisziplin der NVA gerade vollends zusammenbrach kam die Ehefrau des Funkamateurs in die Funkbude gestürmt und zerrte uns vor den Fernseher. Der historische Moment vom 30. September war noch zu steigern.

Günter Schabowski vom ZK der SED hatte gerade die Öffnung der Grenzen zur BRD verkündet.

Kategorien: Allgemein

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Hendrik
14 Jahre zuvor

Wo das damals losging mit der Botschaft, sagten wir noch, in West-Berlin wohnend:
„Jetzt fehlt nur noch, das die Idioten die Mauer aufmachen.“

Am Verlogensten fand ich die Westpolitiker, die nach dem Mauerfall sich vor das Brandenburger Tor stellten und so taten, als hätten sie etwas bewirkt. Diese Lügen hab ich bis heute nicht vergessen.

Armee Outdoor
14 Jahre zuvor

Nett, dass man sich hier mit dem Thema wenigstens mal ordentlich beschaeftigt. Habe die Ausfuehrungen dazu foermlich verschlungen (-:…