Phrasenschweine scheinen arme Säue zu sein. Wenn ich mir die Futterproduktion in der deutschen Presselandschaft so anschaue, dann sind sie fast ausgestorben. Denn früher haben sie noch vor dem Redaktionsschluss vieles aufgefressen, was heute an Nichtschlagzeilen zu lesen ist.
Im BildBLOG war heute der Katastrophenplaner verlinkt. Ein wunderbarer Beitrag von Thomas Steinschneider über die Sterotypien medialer Katstrophenberichterstattung, der reihenweise inhaltsleere Phrasen aus den Headlines zu einer beliebigen Katastrophe vorhersieht:
Man muß mit dem Schlimmsten rechnen, weil die Lage weiter unübersichtlich ist. Sowieso ist derzeit alles ein Bild des Schreckens. So weit so klar, diese Abläufe kennen wir zur Genüge. Etwas schreckliches ist passiert und alle Medien wollen gelesen werden, das heisst, die Schlagzeilen müssen auch zu einem Zeitpunkt schon griffig sein, wo man noch gar nichts in den Händen hat, was nicht eh alle wissen.
Das alles stammt vom Boulevard, ist aber in den letzten Jahren – vermutlich per Schmierblattinfektion – in früher seriöse Medien vorgedrungen.
Dieses Muster des verklausulierten „es gibt nichts wirklich neues, aber wir brauchen halt eine Schlagzeile“ findet sich auch außerhalb von Katastrophen. Dabei könnten viele der Headlines auch lauten: Klicken Sie bitte weiter, hier gibt es nichts zu berichten!
Ich habe mal die nervigsten häufigsten Phrasen aufgelistet:

  • Wirbel um
    Wenn um irgendetwas Wirbel ist, dann gibt es einen möglichen Konflikt, aber die vermeintlichen Konfliktparteien sind noch nicht darüber informiert. Wirbel schon vor der Regierungsbildung heisst nur, dass ein frisch gewähltes Parlament um die besten Plätze im Plenarsaal rangelt, diesen Kindergarten haben wir in Deutschland genauso wie in allen Demokratien.
    Auch Saisonkräfte sorgen für Wirbel, wenn man noch nicht ausdiskutiert hat, was daran so schlimm sein soll, dass Amazon sich exakt so verhält wie alle anderen Unternehmen. Manchmal wirbelt es gar schon vor dem Skandal: Geplanter „Schultrojaner“ sorgt für Wirbel. Da war noch gar nicht klar, was denn der Skandal sein soll: Dass die Software der Schulbuchverlage ein Lizenzmanagement nutzt, wie viele andere Software auch, oder dass man sie mit viel Mühe „Trojaner“ bezeichnen kann, obwohl sie ungefähr gar keine Trojanermerkmale hat??
  • erhöhter Druck
    Der Druck erhöht sich immer dann, wenn nichts neues an Fakten vorhanden ist, man aber das Thema mit einer Schlagzeile besetzen will. Heute erhöht eine Lobbyaffaire den Druck auf Wulff, genau wie Bonusmeilen, Leihgarderobe, Mailboxnachrichten, die SPD selbstverständlich, aber inzwischen auch die CDU und das alles seit Mitte Dezember mehrmals täglich.
    Dabei heisst das erstmal nichts, denn Wulff ist bis heute nicht ob des ganzen Drucks geplatzt. Etwas plastischer wird die Nichtaussage der Schlagzeile bei Polizei: Druck auf Raser wächst – denn: „NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) hat die Polizei angewiesen, die Geschwindigkeitsüberwachung zu verstärken.“ Die betreffende Polizei berichtet, sie habe zwei Radarfahrzeuge und 14 Lasermessgeräte. Ach was, denkt man da. Und jetzt? Dass diese nicht im Lager eingemottet sind sondern sich im Einsatz befinden unterstelle ich mal. Also raus mit der Sprache: Sonderschichten? Kürzere Zigarettenpausen während der Kontrollen?
    „Jägers Wunsch wird von der Polizei im Kreis Mettmann umgesetzt“, sagt der zuständige Polizeibeamte. „Ja, aber wie?!?“ fleht mein innerer Faktenaggregator, kein Wort über irgendeine Erhöhung der Kontrolldichte. Am Ende erinnert die Meldung maximal an die Existenz von Geschwindigkeitskontrollen an sich.
    Ich möchte wetten, dass die Aufforderung des Innenministers über den Ticker lief und zwei Jouernalisten lokalen Bezug der Meldung herstellen wollten. Also ran ans Telefon. Schade, hat nicht geklappt, aber nach den zeitraubenden Telefonaten mit Polizei und Kreisverwaltung muss man doch irgendwas schreiben, oder?
  • So machen Sie es richtig
    Mit der richtigen Headline kann man unwichtige längst bekannte hilfreiche Aussage zu irgendeinem Thema, seien es berufliche Telefonate oder männliche Flirtsignale, die verblüffend den weiblichen Flirtsignalen gleichen, zum Ratgeber machen. Hauptsache man nutzt den kanonischen Absolutheitsanspruch eines Herrn Knigge, dass es genau so geht und nicht anders, und wenn man in drei Monate was anderes schreibt, haben sich Wissenschaft oder Sitten eben geändert. Leider gilt das nicht nur in typischen Wartezimmerzeitungen, sondern inzwischen auch im SPIEGEL und beim Heise-Verlag.
  • ….sind im Kommen
    Irgendwo sieht ein Journalist etwas relativ Neues zum zweiten Mal und denkt sich: Da ist doch was im Kommen. Meistens muss der Journalist nichtmal das Büro dazu verlassen, denn er sieht etwas das zweite Mal in Pressemeldungen irgendwelcher Konzerne oder Verbände. Wo er es letzte Woche das erste Mal sah. Egal, ob heimliche Rentnerautos oder ein Fahrzeugdesigner ausruft Liebling, ich habe den HUMMER geschrumpft, ob Netz-Apotheken oder Kleinwindkraftanlagen – wir haben nichts zu sagen, aber plappern Pressestellen einen Trend nach.

Die Boulevardisierung der Medien schreitet also voran (wieder eine Phrase), durch den erhöhten Druck ist Wirbel im Kommen. Was sicher nicht nur am bösen Internet liegt, durch das mündige LeserInnen alles genauso schnell erfahren wie die Redakteure.
Nein – vielmehr sparen Verlage seit den 1990ern an festangestelltem Personal, von den Honoraren der Freien Mitarbeiter kann kaum einer leben, was auf die Qualität der Beiträge schlägt. Mit einem praktischen Phrasenbaukasten kann man auch ohne große Rechercheergebnisse einen guten Aufmacher reissen.
Wie auch immer – in Redaktionen scheint das (echte) Phrasenschwein aus der Mode geraten, das Sparschwein, in das jeder Redakteur für jede tumbe Phrase einen Euro einwerfen muss. Alleine der Wulff-Skandal mit seinen zahllosen Unterskandälchen hätte in manchen Redaktionen phrasenschweinfinanzierte Weihnachtsfeiern im Stil der ERGO-Versicherungen ermöglicht.

Einen hab ich noch:
Eine ganz besondere Sammlung von Phrasenschweinfutter hat die taz im Angebot. Allein – es ist alles nur geklaut, bei der Konkurrenz: Die Dauerausstellung Neues vom Scheideweg mit aktuellen Berichten über den Wirbel an der wohl überlaufendsten Straßenkreuzung der Welt.

Kategorien: JournalistMeinung