Bettina und Christian Wulff waren mir eigentlich egal. Wulff war nun mal in einem anderen Bundesland Ministerpräsident und als er (not my) Präsident wurde, fand ich das unspektakulär. Der Bundespräsident hat schließlich viel zu reden, aber nichts zu sagen. Immerhin hatten wir eine attraktive First Lady.
Die leidlich bekannten Prostitutionsgerüchte, die ich mit einem halben Ohr beinah noch überhört hatte, ließen Christian Wulff für einen kurzen Moment sogar sympathisch erscheinen. Pygmalion ist ein großartiges Werk von Shaw und – bitte nicht lachen – auch eine der Vorlagen von Pretty Woman. Aber jetzt, wo wir ziemlich alles über die beiden wissen, sind beide Geschichten nicht mehr plausibel.
Christian Wulff erschien mir immer als der trockene, steife, norddeutsche Jurist, der er ist. Und als mir das Buch „Jenseits des Protokolls“ von Bettina Wulff in die Hände fiel und ich, angeregt durch ein Posting von Michaela von Aichberger auf Facebook, darin zu lesen anfing, stellte ich fest, dass auch seine jetzige Frau ihn über die Medien exakt so wahrgenommen hatte.
Ihr eigentliches Buch beginnt nach dem Vorwort „Mama, habt Ihr gelogen?“ mit dem Kapitel „Die Männer“, in dem sie ihre erwähnenswerten Beziehungen im Schnelldurchlauf beschreibt. Der Rettungsschwimmer auf Sylt, für den sie als 16jährige einen Freund im Heimatort sitzen ließ und Wochenende für Wochenende von Niedersachsen auf die Insel reiste.
Man erfährt, dass unsere ehemalige First Lady bei Männern „kein festes Beuteschema“ habe. Auf Sylt wurde sie wegen ihres Lenkdrachens vom Rettungsschwimmer zurecht gewiesen:

Ich drehte mich erschrocken um und da stand dieser Typ: groß, blond, blaue Augen und natürlich wartete er aufgrund seines Semesterjobs nicht mit dem schlechtesten aller Bodys auf.

Nachdem ich diesen Satz gelesen hatte, schaute ich schnell nach, ob „Nicole Maibaum“ – der Name ihrer Co-Autorin – nicht vielleicht ein Pseudonym von Katja Kessler sei. Das alles passte nicht in das Bild, das ich von unserer ebenfalls kühlen Ex-First-Lady hatte. Ich stellte mir nach diesem Satz vor, wie sie mit Michelle Obama und Carla Bruni einen First-Mädchen-Abend abhielt und die Damen nach ausgiebigem Gambas-Essen beim Portugiesen mit ein paar Cocktails an der Bar stehen und sich kichernd erzählen, wie sie ihre Präsis klar gemacht haben.
Solche Formulierungen passen so gar nicht zu ihr, ihrem Mann und dem Bild, das ihre Ehe nach außen geworfen hat. Zudem strotzt der Text von überflüssigen Adjektiven, Adverbien, umständlichen Passiva und Füll-Partikeln – striche man sie, wäre viel Wald gerettet worden.
Später im Buch ist sie alleinerziehende Mutter ihres Sohnes Leander. Alleinerziehend, weil der Kindsvater wirtschaftlich den Arsch nicht hoch bekam und sie Angst hatte, mit ihm unterzugehen.
So nahm sie das ach so schwere Los der alleinerziehenden Mutter auf sich.

Gut ein Jahr nach Leanders Geburt zog ich daher aus der gemeinsamen Wohnung aus. […]
Zwar war ich glücklich, nach der Elternzeit wieder zurück in meinen Job als Pressereferentin bei der Continental AG kehren zu können. Ich merkte, dass ich durch die Arbeit eine bessere, ausgeglichene Mutter war, doch da ich nun weitaus stärker für Leander und mich, für unseren Zwei-Personen-Haushalt aufkommen musste, bedeutete dies auch Stunden aufzustocken, um mehr Geld zu verdienen. Hatte ich zuvor eine 50-Prozent-Stelle, waren es dann 80 Prozent.

Ich glaube, den meisten alleinerziehenden Müttern in meinem Freundes- und Bekanntenkreis werden die Tränen kommen, wenn sie das lesen. Nur sehr, sehr wenige junge Mütter schaffen es, ein Jahr nach der Geburt schon wieder im erlernten Beruf in der alten Position arbeiten zu können. In vielen Fällen scheitert das an fehlenden Halbtagsstellen im jeweiligen Beruf oder daran, dass der Arbeitgeber ein kleiner oder mittelständischer Betrieb war, der keinen Arbeitsplatz freihalten muss. Die meisten alleinerziehenden Mütter haben zu Beginn gerade mal eine Stelle 400€-Basis, wenn überhaupt, und von einem Aufstocken der Arbeitszeit träumen sie. Doch es geht noch weiter:

Morgens zwischen 8.00 und 8.30 Uhr setzte ich Leander fix bei der Tagesmutter ab, ging zu Fuß weiter zur Arbeit, sah zu, dass ich einen guten Job machte, um gegen 15.00 Uhr, 15.30 Uhr Leander wieder von der Tagesmutter abzuholen und mit ihm noch ein wenig Zeit zu verbringen.

Nicht nur, dass sie Arbeit in einem qualifizierten Beruf hatte und diese problemlos von 50% auf 80% der normalen Arbeitszeit erweitern, konnte – es reichte finanziell auch noch für eine Tagesmutter:

Legt man einen mittleren Satz von 5 € und 35 Wochenstunden zugrunde, kommt man auf Kosten von 700 € pro Monat für die Betreuung bei der Tagesmutter. (Quelle)

Selbst, wenn die Hälfte der Kosten vom Jugendamt getragen werden, bleiben also 350€ pro Monat als Minimum, die sie selber aufbringen konnte. Wie schreibt sie weiter?

Ich denke, jede alleinerziehende Mutter weiß, wie das ist: Es ist ein Leben, ständig die Zeit im Nacken, dazu das schlechte Gewissen, seinem Kind keine heile Familie bieten zu können und darum auch das allgegenwärtige Streben danach, seinem Kind ein schönes Dasein zu ermöglichen – manchmal dies zulasten der eigenen Bedürfnisse.

Ja, liebe Frau Wulff, jede alleinerziehende Mutter weiss wie das ist, ganz im Gegensatz zu Ihnen. Denn Zeit ist gemeinhin das kleinste Problem, es ist vielmehr das Geld. Alleinerziehende Mütter, die mehrere Geringverdienerstellen haben, um über die Runden zu kommen, sind an der Tagesordnung. Wenn sie das körperlich und seelisch überhaupt schaffen und nicht mit Hartz IV aufstocken müssen.

Schnitt.

Bettina und Christian Wulff sind nach seiner Trennung offiziell ein Paar, ein Kind ist unterwegs, sie heiraten, ergattern 2008 ein Haus in Großburgwedel, dem Heimatort der Frau. Bettina Wulff ist natürlich wegen unzutreffender oder mutmaßender Presseberichte verärgert. Doch sie ist Pressereferentin, sie kennt die Branche. Es kann ihr nicht entgangen sein, wie die Presse Prominenten, besonders Politikern, hinterher spioniert. Die Berichte über Rudolf Scharping und Kristina Gräfin Pilati-Borggreve, die beide bewusst über die BUNTE lancierten, um die Deutungshoheit über ihre Beziehung zu behalten, waren ein bewusster und erforderlicher Schachzug zum eigenen Schutz.
Dazu die Sicherheitsvorkehrungen in Großburgwedel, beginnend mit Panzerglasfenstern bis zur umfassenden Kameraübewachung. Natürlich belastet es, wenn Teile der Privatspähre live in Büros der Poilzei zu sehen sind.
Eine Eliza Doolittle oder Viv Ward darf sowas überraschen, eine Bettina Wulff, geb. Körner weiß, worauf sie sich einlässt.
Aber anscheinend wachte sie bis zur Ankunft in Schloss Bellevue nicht auf. Als Angela Merkel ihren Mann fragt, ob er für das Amt des Bundespräsidenten kandidieren möchte, scheinen die Belastungen durch mangelnde Privatsphäre vergessen:

Als eine Frau, die ihr Leben vorher längere Zeit als alleinerziehende Mutter sehr selbstbestimmt und eigenständig organisiert hatte, stand ich einem möglichen Amtsantritt von Christian und dem damit verbundenen Umzug nach Berlin sehr ambivalent gegenüber.

Sie hatte wieder nach einem Jahr Elternzeit wieder angefangen zu arbeiten, diesmal in der PR-Abteilung einer Drogeriekette:

Die Arbeit bei Rossmann stellte für mich einen elementaren Teil meines Lebens dar. […]
Die Zeit im Büro war für mich ein wichtiger Ausgleich zum Mutterdasein und ich konnte, wenn ich Leander und Linus gegen 15 Uhr abholte, auch das Zusammensein mit meinen Söhnen mehr genießen und wertschätzen.

Noch heute ist der Regelfall der, dass die Männer mehr Geld verdienen, als ihre Frauen. Wenn aus beruflichen Gründen Umzüge notwendig werden – weil Konzerne umorganisiert werden oder Arbeitsplätze für höher qualifizierte Mitarbeiter nur in anderen Regionen zu finden sind – sind solche Probleme also alltäglich. Es sind faktisch immer die Frauen, die den Job aufgeben und sich am neuen Wohnort etwas anderes, meist schlechter qualifiziertes, suchen müssen.
Doch das ist nicht das Problem im Fall Wulff: In der klassischen Konstellation ist die First Lady selber quasi-Amtsträgerin und repräsentiert nicht nur als hübsches Beiwerk des Präsidenten. Alleine die Ehrenämter können zum Fulltime-Job werden.
Ihre Sorgen, 300km von den Eltern entfernt stünden diese nicht mehr zur Verfügung, wenn man mal kurzfristig jemanden für die Kinder bräuchte, zeigt, dass sie sich der Ausmaße des Amtes nicht im Klaren war.
An dieser Stelle habe ich aufgehört. Ich konnte das Problematisieren auf hohem sozialen Niveau nicht mehr ertragen.

Das Schicksal hat Bettina Wulff brutalstmöglich auf die Sonnenseite geschleudert.
Eine alleinerziehende Mutter, deren größtes Problem ist, das Kind rechtzeitig von der Tagesmutter abzuholen, hat weniger Probleme als die meisten „Normalfamilien“.
Die plötzliche und unerwartete Erkenntnis, dass Politikerfamilien schwerlich um Einblicke in und Spekulationen über ihr Privatleben herumkommen scheint ebenso naiv, wie die Blindheit vor den immensen Veränderungen durch das Amt des Bundespräsidenten.
Das alles hätte eine Eliza Doolittle oder eine Viv Ward erschrecken und überraschen dürfen, nicht jedoch eine toughe Pressereferentin.

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