Ich habe den Brüderle-Sexismus-Artikel im STERN nicht gelesen und werde das auch nicht tun. Und er ist auch nicht direkt mein Thema. Das #aufschrei-Mem auf Twitter hat einiges an Diskussionen in Gang gesetzt, in denen ich auch Stellung bezogen habe.

Meistens hab ich jedoch die Klappe gehalten, weil ein unseliger, extremistischer Stellungskrieg entbrannte. Wie immer bei diesem Thema
Was da schief gelaufen ist, hat Meike Lobo analysiert. Sie hat dafür selber Zunder bekommen – doch sie liegt völlig richtig. Wenn wir Sexismus und sexuelle Belästigung in einen Topf werfen und nicht als unterschiedliche Stufen der Missachtung erkennen, wird die sexuelle Belästigung entwertet. Das gleiche gilt für die nächsten Abstufungen bis hin zur Vergewaltigung.
Den entgleisenten Tonfall der Diskussion und den Rest hat die liebe Frau Elise sehr treffend verbloggt und mir dabei ein paar verkrampfte Gehirnwindungen erspart, das ganze möglichst sachlich in das Internet zu tippen. Denn man kann schon ahnen, dass das Festmachen an deratigen Extremen bei mir zu massiven Adrenalinausbrüchen führt.
Man kann Situationen nur im Kontext betrachten und bewerten.
Ein 15jähriger, der durch den Anblick sexueller Schlüsselreize wie einem tiefen Ausschnitt irritiert vor eine Laterne läuft oder dem ein “Geil, Alta!” entfleucht, mag durchaus noch ok sein.
Das sind Reflexe.
Ein FDP-Politiker in sehr gesetztem Alter, der bei einer ihm unbekannten Frau, die seine Tochter sein könnte, nicht souverän über diese Reflexe hinweg spielen kann, ist inakzeptabel.
Für erwachsene Männer gilt: Gucken ja, glotzen nein, anfassen schon gar nicht.
Wo die Differenzierung zwischen Gucken und Glotzen liegt? Im Kontext.
Und ja: Auch wir Männer werden mitunter belästigt, sogar Opfer von Übergriffen.
Peter Breuer hat die Sache auf Facebook angesprochen. Wie oft passiert „sowas“ eigentlich uns Männern? Und schilderte ein paar eigene Erlebnisse, in denen Anzüglichkeiten von Frauen kamen.
Tatsächlich passiert es.
Jedoch ist sexuelle Belästigung von Männern durch Frauen wie eine chinesische iPhone-Kopie: “same, but different”.
Es war im Sommer 1990 oder 1991. Ein Praktikum führte mich in ein Büro, wo zwei Frauen saßen: Meine Chefin (grade mit dem Studium fertig und wenn überhaupt, dann kaum älter als ich) und eine Mitarbeiterin, die vermutlich 1 oder 2 Jahre jünger war.
Letztere trug normalerweise weite Shirts und Bermudas.
Eines Tages war sie völlig anders gekleidet: Sie trug ein sehr figurbetontes, weißes Minikleid und Pumps mit wirklich hohen Absätzen. Den tiefen Ausschnitt des Kleides verdeckte ein lockeres Seidentuch.
Ich empfand sie das erste Mal sexy, was ich nicht als sexistisch ansehe, solange ich es nicht (unangemessen) äußere. Wobei es in unserem rein beruflichen Kontext exakt keine angemessene Form gab, das ihr oder irgendjemand gegenüber zu äußern.
Im Laufe des Tages hatte ich eine Frage zu einem Vorgang, den ich auf dem Bildschirm der dampfbetriebenen IBM-8100 sah.
Sie kam zu mir, nachdem sie das Seidentuch abgelegt hatte, stellte sich hinter mich und meine rechte Wange spürte deutlich, dass sie keinen BH trug.
Die Situation war mir erstmal unangenehm. Ihre linke Hand auf meiner Schulter, der Daumen jenseits des Halssaums des T-Shirts auf meiner nackten Haut, ihre Oberweite an meiner Wange, hallo! Was machen Sie da? Wie sind nichtmal per Du! Ich hab eine Freundin!
Während des gesamten Praktikums haben wir einander exakt dreimal berührt: Der Händedruck zu Beginn und bei meinem Abschied – und dieses Intermezzo. Ich konnte diese Situation daher nur als Anmache verstehen, als ein deutliches „Hallo, hier bin ich und ich will was von Dir, mach was draus!“
Das wiederum gefiel mir: Die hübsche Kollegin baggert mich an! Ich könnte Sex mit ihr haben. Ok, ich hab eine Freundin und werde nicht darauf eingehen, aber trotzdem toll.
Unterm Strich hat sie Grenzen überschritten. Ich habe sie jedoch gewähren lassen.
Durch die Debatte angeregt überlegte ich: Was, wenn wir die Parameter etwas verändern? Die Chefin war auch hübsch und das Alter passte. Was, wenn sie es gewesen wäre, die mich so angegraben hätte?
Sie war eben die Chefin. Als Praktikant erwartete ich ein Zeugnis, und das stellte die Chefin aus, nicht die Kollegin. Wir hatten ein Machtgefüge, in dem sie die stärkere Position hatte.
Was, wenn ich Avancen der Chefin derart hätte überspielen müssen? Hätte ich damit mein Zeugnis versaut? Oder den Arbeitsalltag durch Mobbing von oben angereichert?
Angst davor hätte ich sicher gehabt.
Wie wir es auch drehen ist offensichtlich, dass einE ChefIn, die eineN MitarbeiterIn angräbt, schnell Grenzen auf eine nicht hinnehmbare Weise überschreitet. Selbst, wenn er wie George Clooney oder sie wie Julia Roberts aussieht.
Und das ist noch der günstigste Fall der sexuellen Belästigung: Der Täter ist dem Opfer unterm Strich wohlgesonnen und merkt womöglich gar nicht, dass er überhaupt Täter ist.
Malte Welding hat in BZ und FR die Geschichte erzählt, wie seine heutige Frau keine Magisterarbeit geschrieben hat, weil ihr Professor in sie verliebt war und keinen Hehl draus machte. Er hielt es vielleicht sogar für filmreife Romantik, verletzte damit aber inakzeptabel Grenzen.

Es ist ein Standard des Films: Eine zwanzigjährige Studentin verliebt sich in ihren Professor. Bestimmt kommt das mal vor, die Liebe ist eine Komödiantin, aber ungewöhnlich ist es schon.
(Quelle)

Welding hat im Artikel übrigens auch einige Effekte der heutigen Sozialisation auf den Punkt gebracht und zeigt, dass die im Wortmeldungen im #aufschrei-Mem, wo Frauen sich durch die tölpelhafte Interessensbekundung zum Teil wildfremder Menschen zu recht blästigt fühlten, vermutlich die Ausnahmen sind. Denn viele Männer haben das Flirten verlernt und kommen gar nicht mehr so weit, dass sie Grenzen überschreiten können.
Aber auch ein anderer Aspekt als das soziale Machtgefüge ist relevant.
Männchen sind in unserer Spezies nunmal stärker als Weibchen, was unter anderem die Basis des Patriarchats ist. Dieses physische Machtgefälle ist heute fast nur noch für Menschen relevant, die riskieren wollen, ins Gefängnis zu kommen.
Wenn ein Mitarbeiter die gleichalte Praktikantin auf eine ähnliche Art anbaggert, wie ich es oben beschrieben habe, zeigt sich das “same, but different”.
Ich hatte lediglich Angst, dass jemand ins Büro kommen und uns irgendwie in flagranti ertappen könnte. Die Konsequenz wären schlimmstenfalls ein paar dumme Sprüche von Kollegen und eine rote Birne gewesen.
Denn: Ich war der stärkere. Ich hätte es jederzeit – auch gegen ihren physischen Widerstand – beenden können. Das hätte sogar gegolten, wenn es die Chefin gewesen wäre: Hätte ich nicht gewollt, hätte ich in dieser Situation zumindest keine Gefahr für Leib und Leben befürchten müssen.
Die meisten sexuellen Belästigungen im Berufsalltag hingegen – auch aus dem #aufschrei-Meme – sind ungeachtet sozialer Hierarchien böswillig und beleidigend, herabwürdigend gemeint. Auch, wenn die Sexualität in vielen Fällen nur vorgeschoben ist.
Wir leben – noch – in einer patriarchalen Welt.
Frauen können theoretisch all das machen, was Männer machen können – die letzte Ausnahme, wo die Rollenverteilung biologisch vorgegeben ist, ist das Kinderkriegen.
Tatsächlich ist es aber bis heute so, dass zumeist noch Männer an der Macht sind, egal in welchem Segment.
Aber auf einmal sind immer mehr Frauen Abteilungsleiterin, Ministerin, Bundeskanzlerin. Und man kann ihnen, die es trotz der manngemachten Hemmnisse, geschafft haben, nichts vorwerfen. Außer, dass sie zwei X-Chromosomen haben.
Dass Frau eine Stelle bekommen hat, weil sie sich hochgeschlafen oder “Tittenbonus” habe, hört man bei Frauen öfter als umgekehrt. Und das, obwohl sie seltener derart angreifbare Positionen haben.
Ist die Kollegin launisch, hat sie bestenfalls PMS, wenn nicht gar gemunkelt wird, sie müsse mal wieder ordentlich durchgefickt werden.
Das ist, trotz der sexuellen Komponente, von der Intention her schlicht Mobbing. Auch Männer werden gemobbt, keine Frage, aber halt anders.
Die Bundestagsabgeordnete der GRÜNEN, Agnes Krumwiede, brachte das in der taz auf den Punkt:

Mit dieser Methode sind kritische Äußerungen von Frauen leichter wegzuwischen als jene von Männern. Politikerinnen auf ihre Weiblichkeit zu reduzieren, geht oft einher mit einer Abwertung ihrer Kompetenz.
(Quelle)

Das ist eine sexistische Grundhaltung, die sich nicht nur in männlich dominierten Berufen zeigt.
Genau genommen beginnt der Sexismus in Firmen nämlich schon einige Meter vor der an eine Frau gerichteten Anzüglichkeit.
Lesen hier Führungspersonen mit?
Ja?
Dann zählt doch zum Beispiel mal retrospektiv, wie oft in den letzten drei Monaten Aufwände in Manntagen ausgedrückt wurden statt in Personentagen und wie oft auf Meetings gesagt wurde, dass man “auch mal Eier in der Hose haben” müsse. Just saying.

Konflikte haben wir größtenteils von der physischen auf die intellektuelle Ebene verlagert, dennoch schwingt bei allen Grenzüberschreitungen durch Männer zu Lasten von Frauen immer ein „ich bin der stärkere“ mit. Das gilt um so mehr, wenn es sich um die per se körperlich gemeinte Sexualität handelt.
Ja. Es gibt Frauen, die sich wehren können und denen sowas nicht passiert. Genauso, wie es Männer gibt, die sich nicht wehren können. Allein aus ihrer Existenz abzuleiten, dass das ganze Thema verfehlt sei, ist genauso realitätsfern, wie der Versuch, aus einem Blick auf die miniberockte Kollegin mit tiefem Ausschnitt eine geplante Vergewaltigung zu konstruieren.
Als der körperlich stärkere drohte mir weder in der Situation mit der Kollegin noch im Gedankenspiel mit der Chefin irgendeine Gefahr für Leib und Leben. Ich hätte aufstehen und weggehen können.
Diese konsequente Möglichkeit haben Frauen im Regelfall nicht. Das wird ihnen in Vergewaltigungssituationen mitunter sogar zum Verhängnis: Weil der Täter bekanntermaßen gewalttätig ist, wehrt sie sich nicht physisch, um ihn nicht zu weiterer Gewalt zu provozieren. Denn sie wird ihm nicht entkommen.
Und muss sich vor Gericht vorhalten lassen, dass der Täter dachte, sie sei einverstanden gewesen.

tl;dr Frauen müssen auf sexuelle Belästigungen empfindlicher reagieren als Männer. Sie haben immer einen physischen Bezug, bei dem die körperliche Überlegenheit des Mannes eine Rolle spielt.

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