Jürgen Trittin sei nun völlig untragbar geworden, heißt es. Warum eigentlich? Und ist das richtig?
Es war vermutlich 1983. Ich muss jedenfalls gerade auf der Zielgeraden zur Volljährigkeit oder knapp darüber gewesen sein. In der Westdeutschen Zeitung auf Seite drei wurde ein Skandal offenbart: Eine Grüne Politikerin sprach sich für sexuelle Beziehungen zwischen Kindern Jugendlichen jungen Menschen und Erwachsenen aus.
Ihr Argument, dass freiwillige, gewalt- und zwangfreie Beziehungen nie unterdrückt werden dürften, fand ich gut. Die Hälfte der Mädchen in meiner Jahrgangsstufe hatten schon „erwachsene Freunde“ (also welche über 18) und daher war es für mich plausibel, was die Frau forderte.
Damals jedenfalls, in einem Alter, in dem ich jeden Minister- oder Trainerposten hätte übernehmen können, weil ich alles besser gekonnt gewusst hätte.

Die Diskussion war ein Relikt der 68er. Die Sexuelle Befreiung war wichtig zur Entwicklung einer unverkrampften Gesellschaft und begann spätestens in der Kommune I.
Später gab es die 1972 gegründete Indianerkommune. Die wollte noch mehr. Noch 1985 forderte sie offiziell etwas, von dem heute sicher die Mehrheit einzelne Teile unterschreiben würde:

Das Recht auf ausziehen von zuhause für die Betroffenen, wann und wohin Kinder und Jugendliche wollen; die Abschaffung der Schulpflicht; die Abschaffung der Paragraphen, die schwule und lesbische Liebe auch für Kinder und Jugendliche verbieten; die Abschaffung aller Psychiatrien, Heime und Knäste; Reiserecht überall hin; Kinder sind keine Hätschel-Tätschel Schoßhunde für einsame Mütter und Väter.

Sexuelle Themen bezogen sich in dieser Forderung lediglich auf insbesondere den § 175 des Strafgesetzbuches. Dass Homosexualität etwas völlig Normales ist und zur Vielfalt des Lebens einfach dazu gehört wie Rothaarigkeit bestreiten heute wohl nur noch NPD- und Unionspolitiker. Dass Jugendliche an das Thema herangebracht werden müssen, bevor sie möglicherweise unpassende Hetero-Rollenbilder adaptieren, ist eine Binsenweisheit.
Tatsächlich wollte die Indianerkommune aber mehr, viel mehr, nämlich straffreie sexuelle Kontakte Erwachsener mit Kindern und Jugendlichen. Wie die Politikerin damals im Zeitungsbericht.
Die Grünen wurden im Januar 1980 gegründet und hatten anfangs – wie jede neue Partei – eine gewisse thematische Filterproblematik. Rechte Strömungen der Öko-Szene versuchten, die Partei zu übernehmen, auch die Indianerkommune brachte sich ein und schaffte es ein halbes Jahr nach der Gründung offensichtlich, ihre Ideologie in das erste Parteiprogamm einzubringen.
Was so eine wilde Zeit alles an Klippen mit sich bringt, die es zu umschiffen gilt, zeigen die Piraten derzeit mit ihren parteiinternen Trollen, die mehr pressewirksame Außen- als parteipolitische Wirkung entfalten.
Dass die Indianerkommune keinen wirklichen Einfluss auf die grüne Parteipolitik hatte, ist schnell ersichtlich:

Im Herbst 1983 besetzten jugendliche Mitglieder der Indianerkommune vorübergehend die Bundesgeschäftsstelle der Grünen in Bonn. Gruppen der Indianerkommune störten Grünen-Parteitage, um ihre Forderungen nach straffreien Sexualkontakten zwischen Kindern und Erwachsenen zu verbreiten, darunter den Landesparteitag der Grünen in Nordrhein-Westfalen 1985.

Die Geschäftsstelle zu besetzen und Parteitage zu stören würde man heute als Trollen bezeichnen. Keiner der Beteiligten wird nach Abklingen des Adrenalins ernsthaft erwartet haben, dass die Parteimehrheit sich auf diese Weise thematisch überzeugen lässt. Es war eher ein verzweifelter Versuch, überhaupt öffentlich wahrgenommen zu werden.
Zwar gab es Versuche, pädophilenfreundliche Politik in der Arbeitsgemeinschat Schwulenpolitik (SchwuP) zu etablieren, aber das stieß auf Widerstand und Volker Beck spricht zwar heute von seinem persönlichen Irrweg, wollte aber die SchwuP selber wegen der pädofreundlichen Tendenzen auflösen:

Dass der sexuelle Missbrauch von Kleinkindern straffrei sein sollte, wäre uns nie in den Sinn gekommen! Gleichwohl war auch ich in jener Zeit in dem Irrtum gefangen, dass sexueller Missbrauch und manche pädophile Handlungen unterschiedliche Tatbestände seien.[…]

Mein primäres Ziel war immer, den Paragraf 175 als Sonderstraftatbestand für Schwule abzuschaffen. Dagegen war das einzige Interesse der Mehrheit in der BAG SchwuP, den Schutz von Kindern vor sexuellen Übergriffen zur Seite zu wischen. Doch dieses Ziel teilten wir ganz und gar nicht. 1984 kam die Aidskrise, diese absurde BAG aber interessierte nur ihr Pädo-Anliegen.

taz vom 31.8.2013

Natürlich kann man die gesetzlichen Regelungen hinterfragen und auf den Prüfstand stellen. Natürlich führen festgelegte Altersgrenzen für die Strafbarkeit sexueller Handlungen angesichts der unterschiedlich schnellen Pubertät der einzelnen Individuen schonmal zu Problemen. Wenn eine 13- und ein 14-jähriger heiss Knutschen zeugt es aber weniger von falschen Gesetzen als von Richtern ohne Augenmaß, wenn der Fall nachher vor dem Bundesverfassungsgericht landet.

Warum wird nun ausgerechnet Jürgen Trittin gerade kritisiert?
War Jürgen Trittin ein Mitglied der Indianerkommune?
War er je ein Befürworter von straffreiem Sex mit Kindern?

Nein.

1981 war er lediglich presserechtlich verantwortlich für das Wahlprogramm der Grünen in Göttingen anlässlich der Kommunalwahl. In diesem Programm waren viele Passagen aus dem Bundesprogramm der frisch gegründeten Grünen übernommen worden – auch die thematische Tretmine, die von der Indianerkommune eingeschmuggelt wurde.
Als Spitzenkandidat der Grünen im aktuellen Wahlkampf werden jetzt Angriffspunkete gesammelt.
Dosenpfand? Ne, wenn man bei Wikipedia nachliest, dann stellt man fest, dass Trittin die Verordnung nur erließ, weil die Getränkeindustrie die mit den Unionspolitikern vereinbarten Mehrwegquoten nicht erfüllt hat und das Gesetz von Töpfer und Merkel für diesen Fall genau das vorschrieb. Der Schuss würde nach hinten losgehen.

Also nehmen wir das Missbrauchsthema, da kocht die Volksseele und mit etwas Glück wird dann sogar seine Hinrichtung gefordert.

Leute, merkt Ihr nicht, dass Ihr das Thema sexueller Missbrauch gerade missbraucht?
Das ist genauso ekelhaft und opferverachtend wie der Versuch, Netzsperren oder die Vorratsdatenspeicherung mit Kinderpornographie zu begründen!

In der CDU zum Beispiel gibt es natürlich keine Politiker, die zum Beispiel Pädophile bewusst gedeckt haben und dafür rechtskräftig verurteilt wurden, aber trotzdem noch Erster Bürgermeister der Landeshauptstadt Stuttgart werden konnten. Oh, Moment, doch: Gibt es doch.

Was übrigens gerne vergessen wird:

Vergewaltigung war bis 1997 als „außerehelich“ definiert, Vergewaltigung in der Ehe war somit kein Straftatbstand. […]

1983 versuchten die Grünen und Abgeordnete der SPD eine Streichung des Wortes „außerehelich“ zu bewirken. Beide Gesetzesentwürfe scheiterten. CDU und CSU begründeten ihren Widerstand gegen die Reformbestrebungen damit, dass die Gesetzesänderung den Abtreibungsparagraphen 218 erweitern würde, weil Ehefrauen die Behauptung, sie seien vergewaltigt worden, als Rechtfertigung für ihren Wunsch nach Abtreibung verwenden könnten. In den folgenden Jahren legten u.a. die Grünen, die SPD, die PDS, der Juristinnenbund und das Justizministerium verschiedene Gesetzesentwürfe vor. Im Mai 1997 stimmte schließlich eine Mehrheit der Abgeordneten – vom Fraktionszwang befreit – für einen fraktionsübergreifenden Gruppenantrag der weiblichen Abgeordneten und für die rechtliche Gleichstellung ehelicher und außerehelicher Vergewaltigung. Seitdem ist auch die Vergewaltigung in der Ehe strafbar. Der Regierungsentwurf der CDU, CSU und FDP, der eine Widerspruchs- bzw. Versöhnungsklausel enthielt, die es Opfern ehelicher Vergewaltigung im Gegensatz zu Opfern außerehelicher Vergewaltigung ermöglicht hätte, vor der Hauptverhandlung Widerspruch einzulegen und so den Ehemann vor einer weiteren Strafverfolgung auszuschließen, wurde abgelehnt.

Wikipedia

Tatsächlich haben die Grünen schon 1983 versucht, sexualisierte Gewalt in der Ehe endlich zur Straftat zu machen. Und scheiterten bis zum fraktionsübergreifenden Frauenbündnis und dem meines Wissens von Wolfgang Schäuble (!) aufgehobenen Fraktionszwang an den Unionsparteien, dieses Unrecht zu beenden.

Die heutigen Regierungsparteien – und da offenbar insbesondere die Mehrheit der Männer – haben sich bis 1997 gewehrt, die Vergewaltigung in der Ehe strafrechtlich als das anzuerkennen, was sie ist: Eine Vergewaltigung nämlich und nichts anderes.

tl;dr: Wer Jürgen Trittin wegen pädophilifreundlicher Parteipolitik im Jahr 1981 kritisiert missbraucht das Thema sexueller Missbrauch.

Ergänzung:
Ich will sexuellen Missbrauch – der besser als sexuelle Gewalt oder Vergewaltigung bezeichnet werden sollte, da Missbrauch immer einen akzeptierten Gebrauch impliziert – nicht klein reden. Was die Grünen da Anfang der 80er im Wahlprogramm zugelassen haben war unsäglich.
Doch hat zum Beispiel Alice Schwarzer im Cicero zwar auch die Verstrickung des „linksliberalen Millieus“ incl. der FDP in pädophile Netzwerke beschrieben. Dennoch greift auch sie aktuell nur die Grünen an.
Es geht hier zudem nicht um Volker Beck (auch, wenn ich ihn zitiert habe) oder Daniel Cohn-Bendit. Wenn es um diese Personen ginge, dann müsste es auch um die hessische FDP-Vorsitzende Dagmar Döring gehen gehen oder um den ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Wolfgang von Stetten:


Es geht darum, dass Jürgen Trittin für etwas zur Verantwortung gezogen werden soll, was er nicht verantworten muss.
Und es geht darum, dass die Grünen – wie man SPIEGEL, STERN und anderen Medien lesen kann – ihre Pädophiliegeschichte vorbildlich aufarbeiten.

Noch ein Nachtrag:
Moritz hat nachgeguckt, wer alles gegen die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe gestimmt hat. Überraschend.

Kategorien: Allgemein

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[…] Alles ist wahr Volker König über ehrliche Aufarbeitung bei den Grünen und miese Argumente. […]