Manche Dinge sind wie ein Sog. Du fängst an und sie ziehen Dich immer mehr in ihren Bann. Es müssen nicht mal Drogen sein, manchmal ist es viel banaler und unerwarteter.

Günter Walraff war der Mann, der 1977 bei der BILD als Hans Esser arbeitete. Drei Monate, die ausreichten, um hinter die Kulissen des Blutjournalismus zu gucken.

Während dieser Zeit musste er durchgehend undercover leben, damit kein misstrauischer Kollege bei der BILD den Betrug erkennen kann. Das war nicht seine letzte so groß aufgezogene Undercover-Aktion, sie sind bis heute sein Markenzeichen.

Vor einigen Jahren sah ich ihn im Fernsehen in einem Interview. Es ging unter anderem um seine Zeit als Hans Esser und wie sie sein Leben bestimmte. Er berichtete von einem Sog, einem Thrill, die Rolle des Hans Esser zu spielen, Hans Esser zu werden. Und obwohl Günter Walraff in einer festen Beziehung war, hatte Hans Esser eine Freundin.

In so einer Rolle erfindet man sich selbst neu – vielleicht besser, als man seine wirkliches Leben objektiv empfindet. Solche Geschichten kennt jeder im kleinen Stil vom Hörensagen: Das Date des besten Freundes oder der besten Freundin, dass sich als Geschichtenerfinder herausstellte und am Ende in einer festen Beziehung mit jemand ganz anders lebte, ist so ein Fall.

Ungefähr 2007 spielte ich viel in Second Life rum. Diese virtuellen Welten luden dazu ein, sich neu zu erfinden und seinen Avatar mit optischen Eigenschaften auszustatten, die man vielleicht gerne hätte. Nur sehr, sehr wenige Spieler hielten sich mit dem Design ihres „Püppies“ an ihr wirkliches Aussehen.

Auch mein Avatar war muskulös, hatte dunkle Augen und volles, dunkles Haar. In dieser Maske fand ich die Möglichkeit, mich auszuprobieren und zum Teil neu zu erfinden. Ich war DJ, entwickelte Objekte wie eine fliegende Honeymoon-Suite mit Pseudo-3D-Diashow, hatte eine gut besuchte Fotoausstellung und half einigen Spielern, lästige, geradezu stalkende Avatare los zu werden.

Eines Tages sprach mich in einer deutschen SL-Community eine Spielerin an und klagte mir ihr Leid. Sie und ihr Mann waren beide regelmäßig „inworld“ und sie vermutete, dass er dort mit anderen Frauen flirtet.

Ich hatte einen zweiten Account in SL, was zwar damals nicht erlaubt war, aber auch nicht selten. Der zweite Account diente den meisten als Bank für wertvolle Items, die man im Besitz hat, und die bei Programmabstürzen schonmal verschwinden. Meiner trug den Vornamen „Portia“ nach dem Künstlernamen einer Schauspielerin der Serie Ally McBeal.

Meine Idee war: Portia wird gestylt, der ganze Avatar wird heiß gemacht, ich baggere den Mann an und wir wissen, was Sache ist.

Portia wurde am selben Abend eine schwarzhaarige Mischung aus Heidi Klum und der Sängerin Fergie von den Black Eyed Peas. Das realisierte ich nicht nur durch die Optik, sondern auch durch das Auftreten.

Da ich mein „Opfer“ auch in Second Life kannte, musste ich auch meine Schreibweise, quasi die Stimme, mit der ich sprach, ändern.

Portias Sätze wurden kurz, endeten in den meisten Fällen mit einem Ausrufungszeichen. Ihr Auftreten war wie ein „Ich bin jetzt da, Ihr könnt anfangen.“

Es dauerte keine drei Tage und ich hatte den virtuele „Fremdgänger“ überführt, als er mir Portia Cybersex anbot. Als Mann kann ich offenbar gut vorhersehen, wie Männer auf weibliche Anmache reagieren und wie forsch ich dabei gerade noch sein darf.

Während dieser drei Tage musste Portia sich zur Kontaktaufnahme in der SL-Öffentlichkeit aufhalten und geriet auch in den Focus anderer – männlicher – Spieler. Und knüpfte Kontakte. Das gefiel mir. Portia wurde schnell zu einem Stammgast im virtuellen Jazzclub, in dem mein eigentlicher Avatar verkehrte.

Als ich mich im Chat einmal verplapperte und als Portia jemanden auf etwas ansprach, was sie gar nicht wissen konnte, rettete ich mich, indem ich Portia als meine Schwester ausgab, der ich von dem Sachverhalt erzählt hatte. Diese Geschichte sprach sich rum und notgedrungen sponn ich sie weiter: Sie war etliche Jahre jünger, studierte Jura, wir hatten nach einem Streit viele Jahre nur die notwendigsten Kontakte auf Familienfeiern. Ich suchte mir sogar die entsprechenden Vorlesungen der Ruhr-Uni-Bochum raus, um die Legende auszupolstern.

Es war wie ein Sog. Ich wurde Portia und hatte in dieser Rolle einen eigenen Freundeskreis, wollte die Illusion möglichst lange aufrecht erhalten. Ich konstruierte eine Animation, bei der sie mit in die Hüften gestemmten Händen in den Raum stöckelt, die rechte Hand hochreißt und dazu Fergies „La la la-la-la“ aus der Aufnahme von Mas Que Nada der Peas und Sergio Mendez zu hören war, und bekam noch mehr Aufmerksamkeit. Portia war die Rampensau.

Die Männer, die Portia zu abgelegenen Orten der virtuellen Welt lotsen wollten, um sie für sich zu haben, wurden immer mehr. Geschenke wollten sie ihr machen, virtuelles Geschmeide und virtuelle Gewänder (in der virtuellen Welt konnte man für die interne Währung alles kaufen und verkaufen, was den Besitzer wechseln konnte).

Auch, wenn es bei den Artikeln um Preise von umgerechnet maximal 2-3 € ging nahm Portia nichts an. Genauso verhielt es sich mit Versuchen, den Kontakt in die Real World zu auszuweiten. Portia weigerte sich, was damals in Second Life kein Makel war.

Als das Gerücht umging, Portia sei nur (m)ein Zweitaccount, ergab es sich zufällig, dass ich gerade zwei Notebooks besaß. Ich ging mit beiden online und die „Geschwister“ lieferten sich einen sehenswerten Krach auf der Tanzfläche des Jazzclubs.

Höhepunkt war dann eine Miss-Wahl. Auch Portia wurde gefragt, ob sie auf den Catwalk wolle. Spontan sagte sie zu und ich überlegte, was ihr in der letzten Minute dazwischen kommen könnte, um die Teilnahme zu verhindern. Immerhin stand ja gar keine Frau hinter dem Avatar.

Unter den Teilnehmern befanden sich jedoch noch zwei weibliche Avatare, die ganz offiziell von Männern betrieben wurden. Geschätzt 1/4 der weiblichen Accounts würde heimlich von Männern gespielt, hieß es damals. Oft als Doppelaccount, um (siehe oben) Geschmeide und Gewänder abzuzocken, die kurz darauf weiterverkauft werden. Geld war in SL nicht völlig unwichtig und nicht jeder hat eine Kreditkarte, die damals die einzige Möglichkeit war, Euro in „Landeswährung“ zu wechseln. Da wird man schonmal erfinderisch.

Moralische Bedenken gegen Portias Teilnahme waren also bei Tage besehen höchst albern.

Ich installierte auf meinem inzwischen aufgestockten Notebook eine virtuelle Maschine, in der ich meinen Hauptaccount steuerte – er war auf der Gästeliste und wäre fast sogar in die Jury gekommen. Kurz zuvor war in Second Life der Voice Chat eingeführt worden, und auch auf der Miss-Wahl sollten die Kandidatinnen die Juryfragen mit ihren echten Stimmen beantworten können, wenn sie das wollten.

Es juckte in meinen Fingern. Ich wollte meine Präsenz in SL schon länger reduzieren und roch die Chance, Portia einen grandiosen Abschied zu inszenieren.

Auf einer CD, die mal einer Computerzeitung beigefügt war, befand sich ein Stimmenverzerrer und ich stellte fest, dass meine Stimme durch den Filter „kleiner Junge“ jung und feminin klang. Zwar etwas kratzend, aber Portia hatte der Legende nach nur alte Hardware, das passte also.

Es wurde ein Desaster. Der Veranstaltungsort hatte die maximale Zahl an Avataren, die der Server verwalten konnte, erreicht, und mein PC hielt fast die weiße Fahne raus, weil er diese Last durch die zwei aktiven Avatare sogar doppelt zu bewältigen hatte. Alles wurde sowieso verzögert angezeigt und bei mir nochmal extra langsam. Portia stürzte vom Catwalk und blieb wie ein Zombie in einem schlechten Film an einer Glaswand hängen, während sie unbeirrt weiter Laufbewegungen machte.

Portia existiert noch heute, aber nur noch zu Demozwecken, wenn ich jemandem mal SL zeigen möchte. Heute sage ich: Es war hart an der Grenze, was ich da gemacht habe. Immer, wenn Menschen einander begegnen, werden Erwartungen gesetzt, und Portia spielte damit, dass ihr Puppenspieler wusste, was männliche Gesprächspartner sich wünschen. Ich hoffe, dass die nicht zu ihrem Avatar passende Trockenheit und Sprödheit, die Portia bei zu intimem Interesse zeigte, dagegen gewirkt hat.

Später, als ich in Singlebörsen online war, fand ich selber ähnliche Fälle von Alter Egos.

In unseriösen Kontaktbörsen nutzen vorsätzlich angelegte Fakeprofile dieselben Methoden, wie sie kürzlich noch dazu dienten, die Zahl kostenpflichtiger Nachrichten in SMS-Chat zu erhöhen. Heute dienen sie dazu. Menschen in kostenpflichtige Mitgliedschaften zu locken. Die kostenlosen dürfen nämlich meist ihre Nachrichten nicht einmal lesen.

Selbst in seriösen Börsen gab es mit solchen Fakes ganz plumpe Versuche von Betrügern, die Telefonnummer oder Mailadresse der männlichen Teilnehmer abzugreifen, um verifizierte SPAM-Ziele zu bekommen. Man erkennt sie aber schnell – viele erinnern an schlecht übersetzte Phishing-Mails und sie wollen schon bei der Kontaktaufnahme persönliche Daten des Anderen wissen.

Aber es gab auch andere Fälle. Einem weiblichen Fake in einer Partnerbörse sagte ich es auf den Kopf zu, dass das Profil nicht echt sei – die Bildersuche TinEye fand das Profilbild gei Getty Pictures und auf den Websites gefühlten 1000 Onlinemagazinen, die es dort lizensiert hatten.

Tatsächlich steckte hinter dem Profil ein Mann.

Er wusste nicht, was er in seinem Profil schreiben sollte, erzählte er mir. Also legte er sich ein weibliches Profil an, um unauffällig die Profile seiner Konkurrenten inspizieren zu können. Das Bild hatte er spontan genommen, es war auf einer Website, die er gerade in einem anderen Tab offen hatte, als er das Profil anlegte.

Erst sei er von den Männern, die sein weibliches Alter Ego als „Frischfleisch“ erkannten und binnen weniger Sekunden anschrieben, genervt und abgestoßen gewesen. Dann hätte er sie zu veräppeln versucht und schließlich sei da so ein Sog entstanden, das Spiel auszreizen.

Aufmerksamkeit zu erlangen.

Emotionen zu spüren und zu erwecken.

Er wurde manchmal sogar eifersüchtig, wenn die Männer, zu denen sein Alter Ego Kontakt hatte, Partnerinnen fanden und sich in der Kontaktbörse abmeldeten.

Er hat dabei möglicherweise Schaden angerichtet, das war ihm klar, und das von mir aufgedeckte Profil verschwand. Aber er war kein Einzelfall. Unpassende Bilder mit Details, die auf eine Aufname außerhalb von Deutschland hinweisen, sind ein erstes Indiz. In einem Fall stellte ich fest, dass eine „Frau“ nahezu wöchentlich ihren Status in Sachen Familienstand änderte – aus „getrennt“ wurde „single“ aus drei Kindern wurden keine, mal mit und mal ohne Kinderwunsch, um plötzlich wieder zu zwei real existierenden Kindern zu werden. In diesem Fall waren die Bilder sogar plausibel, vielleicht sogar echt, aber technisch gesehen war sie ein Fake, da die Daten zur Person vermutlich nie stimmten.

Ich will solches Verhalten nicht rechtfertigen.

Aber ich will zeigen, dass es in der Grundform Internetalltag ist. Auf Twitter gibt es eine ganze Reihe Fakes. Zwar wird auf die rüstige Rentnerin Renate Bergmann wohl kaum ein heiratswilliger Mann hereinfallen, aber das Risiko, mit jemandem zu flirten, der seine Identität oder wesentliche Teile davon nur vorgibt, ist groß.

Nicht alle Fakes sind böse, aber wenn sie gezielt Emotionen vortäuschen oder das nur in Kauf nehmen, dann richten sie schnell immensen Schaden an.

Was tun?

Spielt man selber eine Sockenpuppe, sollte man auch zum eigenen Schutz zu enge und nahe Kontakte meiden. Wer erstmal richtig tief in den Strudel gerät kommt dort selber zu Schaden. Es frisst zum einen immer mehr Zeit und Aufmerksamkeit, die Lügenkonstrukte durch neue Lügen vor dem Einsturz zu bewahren. Zum anderen kann es durchaus passieren, dass man sich auf die eine oder andere Weise in seinen Gesprächspartner (der in diesem Moment noch gar kein Opfer sein muss) verliebt und gar nicht mehr loslassen zu kann.

Glaub man selber, gerade eine Freundschaft mit einem Fake geschlossen zu haben, braucht auf der objektiven Seite eine kleine Portion detektivischen Spürsinns.

Wenn Telefonate nicht möglich sind oder nur zu bestimmten Zeiten, wenn Skype nur ohne Webcam oder gar nur per Chat geht, wenn Treffen mehr als einmal kurzfristig abgesagt werden, dann ist Vorsicht geboten. Das Gegenüber kann nur zu leicht in einen Sog geraten sein, abhängig sein von der Aufmerksamkeit durch einen oder gar mehrere intime Gesprächspartner im Netz.

Wenn ein reales Treffen mehr als einmal verzögert wird, dann stimmt etwas nicht. Die Person am anderen Ende hat vermutlich etwas wichtiges verschwiegen, weshalb das Treffen die Illusion zerstören würde. Dabei ist letztlich egal, ob es sich um einen „echten“ Fake handelt oder nur um jemanden, der Aufmerksamkeit haben will aber reale Nähe nicht ertragen kann. So oder so wird er – oder sie – Hoffnungen nicht erfüllen können. Punkt.

Leider enden da die Möglichkeiten des Spürsinns und unsere Emotionen kommen ins Spiel. Wäre man doch nur nicht emotional involviert! Hätte man bloß keine die Wahrnehmungsfähigkeit einschränkenden Hoffnungen und Träume, die sich mit der Person am anderen Ende der Leitung verbinden!

Dann wären Enttäuschungen und Verletzungen leicht zu vermeiden. Es gibt nämlich eine einfache Faustregel, die auch gilt, wenn man jemanden „im Internet“ kennen gelernt und an der Person reales Interesse hat:

Wer will findet Wege, wer nicht will findet Gründe.

Kategorien: Allgemein

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Salvador Gordon
10 Jahre zuvor

Zusammenfassung Ziel dieser offenen, randomisierten Multizenterstudie ist es, Nutzen und Wirtschaftlichkeit des Selbstmanagements der oralen Antikoagulation bei Patienten mit Vorhofflimmern (SMAAF-Studie) im Vergleich zur herkömmlichen beim Haus- oder Facharzt betreuten Patientengruppe zu untersuchen. Liegt eine Eignung zur Selbstkontrolle vor, werden 2000 Patienten randomisiert entweder dem Selbstmanagement oder der Kontrollgruppe zugeteilt. Als primäre Endpunkte während des zweijährigen Beobachtungszeitraums werden die Anzahl behandlungsbedürftiger thromboembolischer bzw. hämorrhagischer Komplikationen ermittelt. Sekundäre Zielparameter sind die Einhaltung der INR-Werte im individuellen Zielbereich, die INR-Varianz, der Zeitverlauf der Komplikation sowie die Kosteneffizienz des Selbstmanagements im Vergleich zum routinemäßigen Verfahren. Letztere schließt die durchgeführten diagnostischen und/oder therapeutischen Maßnahmen, die Krankenhausliegedauer sowie auch die sozialen Folgen mit ein (Anschlußheilbehandlung, Berufsunfähigkeit, Berentung). Die Fallzahlschätzung ergibt sich aus der Annahme, daß während dauerhafter Antikoagulation bei Patienten mit chronischem nichtvalvulärem Vorhofflimmern im Rahmen der Primär- und Sekundärprävention vier schwere thromboembolische bzw. hämorrhagische Komplikationen pro 100 Patientenjahre auftreten. Da sich diese Rate durch das Selbstmanagement halbieren läßt, ist bei einer Power von 80% und einem Signifikanzniveau von 5% bei einem einseitigen <chi>2-Test zur Absicherung eine Stichprobengröße von n = 997 Patienten pro Gruppe erforderlich. Die Ergebnisse der SMAAF-Studie werden den sozio-ökonomischen Nutzen des Selbstmanagements bei Patienten mit chronischem nichtvalvulärem Vorhofflimmern ermitteln.

Ich war so frei, den SPAM-Link, der hier gesetzt werden sollte, zu entfernen. Ansonsten ist der Kommentar so absurd, dass er bleiben darf 😉 – VK

[…] In diesem Moment sah ich Muster, die ich schon selber erlebt habe. In einer Singlebörse schreibt man sich, tauscht die Handynummern aus, aber Telefonieren geht nicht. Nur SMS. Festnetz hat man nicht. Ich hab selber Kontakte erlebt, bei denen sich das Profil in der Singlebörse während der Kommunikation überraschend veränderte. […]